Wenn auch in dem Artikel Wie gerecht ist das SPD-Regierungsprogramm die aus meiner Sicht wesentlichen konzeptionellen Fehler bereits erörtert wurden, möchte ich mich diesem Problem noch einmal von einer anderen Seite nähern.
Ich glaube die SPD hat nicht richtig begriffen, dass sie per se – ob in der Opposition oder in staatstragender Rolle – eine Protestpartei ist und deshalb diese Rolle anderen Parteien überlassen hat. Sie meint, meines Erachtens fälschlicherweise, dass man in Regierungsverantwortung keine Protestpartei sein könne. Es geht aber bei der Charakterisierung Protestpartei in erster Linie ja nicht darum, gegen irgendeine Regierungspolitik, die man auf die eine oder andere Weise immer mit zu verantworten hat, zu sein, sondern Protestpartei bedeutet auch immer oder vor allem Protest gegen die herrschenden Verhältnisse, die nicht unbedingt durch die Politik sondern durch die wirtschaftlichen Verhältnisse, durch die gesellschaftlichen Restriktionen und Stimmungen, durch die außenpolitischen Beschränkungen und sicher noch einiges mehr, gesetzt sind. Eigentlich tritt die SPD ja deshalb an, Regierungsverantwortung zu übernehmen, um die herrschenden Verhältnisse zu ihren Gunsten, in ihrem Sinne, für ihre Klientel stückchenweise, evolutionär zu verändern. Sie befindet sich also auch als regierende Partei im Protestmodus.
Der erste SPD-Kanzler, Willy Brandt, hat diese Rolle noch bis zu einem gewissen Grade begriffen und auch ausgeführt. Denn was ist es anderes als Protest, wenn er als führender Mann der Staates fordert: mehr Demokratie wagen. Er muss es wagen, er kann es nicht einfach per Amt dekretieren, die Verhältnisse gestatten es nicht. Auch kann man seine Ostpolitik als eine Protestpolitik ansehen, denn die außenpolitische und auch die innenpolitische Situation hat eine solche Politik eigentlich nicht gestattet. Dazu musste er viel Mut aufbringen und Rückschläge einstecken, letztlich bis zu seiner Abdankung.
Inwieweit Helmut Schmidt noch ein Protestkanzler war, kann ich nicht beurteilen, da fehlen mir einfach noch einige Informationen. Er hat vielleicht zu sehr die Rolle der staatstragenden SPD verkörpert, um noch überzeugend als Protestkanzler wahrgenommen werden zu können und wohl auch als ein solcher niemals wahrgenommen werden wollte, siehe seine berühmtes Wort über Visionen: wer Visionen hat sollte zum Arzt gehen.
Aber ganz gewiss war dann der dritte SPD-Kanzler Gerhard Schröder kein Protestkanzler mehr. Was ist seine sogenannte Agenda 2010 anderes als die Anpassung an die herrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse, als die Anpassung an die immer stärker werdende neoliberale Strömung in der Welt und in Deutschland. Viele seiner Entscheidungen – nicht nur die Agenda 2010 – sprechen für diese total angepasste Politik. Beispiele: die steuerfreie Veräußerung von großen Aktienpaketen durch die Banken, jeglicher Verzicht auf ein Gleichstellungsgesetz trotz entsprechender Koalitionsvereinbarung („Frauen und anderes Gedöns“). Vielleicht darf man ihm noch ein gewisses Protestpotential wegen seiner Ablehnung des Irak-Krieges zusprechen, denn die dabei zu überwindenden Widerstände waren nicht trivial. Durch diese mutige Tat wird sein unpolitisches „bedingungslose Solidarität mit den USA“ gemeinhin verziehen. Den Verzicht der Grünen auf jegliche Art von Protestpartei in der Regierungsverantwortung steht an dieser Stelle nicht zur Diskussion.
So gesehen könnte man das Programm der SPD für den diesjährigen Wahlkampf durchaus als ein Protestprogramm auffassen. Gerechtigkeit ist durchaus ein Problem das an die Wurzeln der Gesellschaft, an die Wurzeln der herrschenden Verhältnisse geht. Der Fehler liegt, wie im Artikel Wie gerecht ist das SPD-Regierungsprogramm? dargestellt, jedoch darin, dass die Gerechtigkeit letztlich eine ethische Kategorie ist, die so oder so wahrgenommen wird und man nicht die Ursachen des Problems benennt: an die immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich, also auf die zunehmende, messbare Ungleichheit in den wirtschaftlichen Verhältnissen. Eine der Grundlagen für diese Entwicklung lieferte die Schaffung dauerhaft prekärer Arbeitsverhältnisse mithilfe der Agenda 2010. Hier hätte die SPD viel mehr Mut aufbringen müssen, um gerade unter diesen jetzigen günstigen Bedingungen, sich den prekären Arbeitsverhältnissen viel stärker widmen müssen, aber nicht nur den prekären Arbeitsverhältnissen sondern dem Problem der Armut schlechthin und dabei insbesondere auch dem Problem der Obdachlosigkeit. Obdachlosigkeit war, wenn ich es richtig sehe, bei keiner Partei ein Programmpunkt von irgendeiner Relevanz sondern findet sich nur schamhaft versteckt unter dem Begriff Armutsbekämpfung. Obdachlosigkeit ist nicht nur die schärfste Ausprägung des Armutsproblems, es ist vor allem eine Schande für unsere Gesellschaft.
Ich will es ein bisschen bösartig zusammenfassen: die SPD hat versucht über einen gefühlsduseligen Gerechtigkeitswahlkampf die Herzen der Menschen zu erreichen. Sie hätte den Mut aufbringen müssen, über die Thematisierung der zunehmenden Ungleichheit, die Köpfe der Menschen zu erreichen. Wachsende Ungleichheit ist eine Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft, sie ist der Keim für Revolutionen. Ungerechtigkeit gehört zu unserem Leben, unter ihr leiden wir seit unserer frühesten Kindheit, insgeheim wissend, dass sie uns immer begleiten wird. Keine Regierung wird uns helfen, sie zu beseitigen oder wesentlich zu lindern.