Die leidige Leitkultur

Genau mit diesem Thema wollte ich mich eigentlich gar nicht beschäftigen, aber Provokationen kann ich immer nur schlecht ignorieren. Heute war es eine kleine Notiz in der Berliner Zeitung laut der mein spezieller Freund A. Gauland die stellvertretende SPD-Vorsitzende und Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoğuz in Anatolien „entsorgen“ will, da sie findet: „eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar“.  So geäußert im Tagesspiegel im Mai 2017.

Bei diesem Satz sträuben sich mir wie Herrn Gauland die Nackenhaare. Und er wird leider nicht besser, wenn man ihn in seinem weiteren Kontext zitiert.

Sobald diese Leitkultur aber inhaltlich gefüllt wird, gleitet die Debatte ins Lächerliche und Absurde, die Vorschläge verkommen zum Klischee des Deutschsein. Kein Wunder, denn eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar. Schon historisch haben eher regionale Kulturen, haben Einwanderung und Vielfalt unsere Geschichte geprägt. Globalisierung und Pluralisierung von Lebenswelten führen zu einer weiteren Vervielfältigung von Vielfalt.

Und wenn man noch weitere Stellen hinzuzieht, wird es eher noch übler:

Fragen Sie mal Frauen, Mütter, Jugendliche, Homosexuelle oder Menschen mit Behinderungen, was sie von einer rechtlichen Konservierung einer Leitkultur der 1950er Jahre halten würden!

Denn welcher Verfechter einer Leitkultur hat je von ihrer rechtlichen Fixierung gesprochen? Also das übliche Politikerspiel: man baut sich einen Gegner auf, der gar nicht existiert, um ihn umso leichter in die Pfanne hauen zu können. Das ist so lächerlich, dass es mich fast sprachlos macht und mir die Lust am Weiterschreiben vergällen könnte. Aber nun muss ich durch.

Um es unmissverständlich zu sagen: ich halte von dem Begriff „Leitkultur“ gar nichts und vom Betriff „deutsche Leitkultur“ noch viel weniger, und ich finde auch, dass ich „keine spezifische deutsche Leitkultur“ ausmachen kann. Aber das steht ja so nicht da sondern „keine spezifische deutsche Kultur“ und da hört der Spaß für mich auf. Wenn man dann die nachfolgende Begründung liest (siehe oben), dann darf man folgern, dass es überhaupt keine „spezifische xy Kultur“ gibt. Also auch keine türkische, keine ägyptische, keine chinesische, keine europäische, nah und natürlich überhaupt keine amerikanische Kultur. Damit ist Frau Ö. zu einer bahnbrechenden kulturwissenschaftlichen Erkenntnis gelangt. Oder habe ich sie da über interpretiert?

Die unausgesprochene Schlussfolgerung von Frau Ö. ist auf alle Fälle diese: da es keine spezifisch deutsche Kultur gibt, kann es auch keine spezifische deutsche Leitkultur geben. Das ist natürlich von der Logik her Quatsch. Nirgendwo steht geschrieben, dass Kultur der Oberbegriff von Leitkultur ist, das liefert auch unsere deutsche Sprache nicht. Sie hätte nun eigentlich folgern müssen: Leitkultur ist trotz seiner zusammengesetzten Konstruktion ein eigenständiger Begriff und hat nichts mit Kultur zu tun und müsste also unabhängig vom Kulturbegriff definiert werden. Das will ich hier natürlich nicht tun, da mich ja der Begriff gar nicht interessiert (Der Begriff Leitkultur ist übrigens nicht von dem ehemaligen CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz eingeführt worden, wie viele meinen, sondern von dem syrisch-deutschen Islamwissenschaftler Bassam Tibi)

Ich folgere nun:  Frau Ö. hat regelrecht Mist geschrieben und Herrn G. nach Monaten noch eine nette Steilvorlage geliefert. Bravo!

Schade, dass der faschistoide Rassismus des Herrn G. von der Sachdebatte ablenkt und damit die unsäglich dumme Äußerung von Frau Ö. nicht mehr zur Diskussion steht und wohl auch im Mai nicht zur Diskussion gestanden hat. Wohin schickt (ich mag seine Wortwahl auch nicht mehr in Anführungsstrichen wiederholen) Herr G. Lieschen Müller, wenn sie die deutsche Kultur nirgendwo findet? Wohin er Itzak Rosenthal schicken würde, wissen wir nun.

Schlussfolgerung: nicht alles was Herr G. oder die AfD schlecht findet, ist automatisch gut, aber die Schlussfolgerung, die er oder sie zieht, haben mit Kultur gar nichts aber mit der ihnen eigenen Leitkultur (oder besser: Führerkultur) sehr viel zu tun.